Diese Website verwendet Funktionen, die Ihr Browser nicht unterstützt. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf eine aktuelle Version.

"Kinderverschickung - von Erholung keine Spur" ist ein Masterabschlussprojekt von Gina Feis und Sophie Rücker. Es entstand am Institut für Medienwissenschaft und dem Zentrum für Medienkompetenz an der Eberhard Karls Universität Tübingen, betreut von Prof. Dr. Susanne Marschall.

Medien
  • Katrin Raabe
  •  | Sophie Rücker und Gina Feis







Kinderverschickung - von Erholung keine Spur

Was Verschickungskinder in deutschen Kurheimen zwischen 1950 und 1990 erfahren mussten





🔊 Für dieses multimediale Reportage-Format nutzen wir neben Texten und Fotos auch Audios und Videos. Daher sollten die Lautsprecher dieser Seite in der rechten oberen Ecke eingeschaltet sein.

⬇️ Mit dem Mausrad oder dem Touchscreen scrollen Sie sich durch die Seite und gelangen zum nächsten Kapitel.









0:00/0:00
  • Bild: AKVBW e.V.

Übersicht: Kapitel und Abschnitte

  1. Zahlen und Fakten der Kinderverschickung
  2. Die Verschickung: Transport, Ankunft und Heime
  3. Die Verschickung: Personal und Pädagogik
  4. Das Verschickungsheim: Schlafsaal, Speisesaal, Waschraum
  5. Verschickungsheime: Lage und Träger
  6. Schwerpunktthemen: Experteninterviews zur Kinderverschickung
  7. Links und Kontaktmöglichkeiten

Hinweis

Jedes Verschickungskind hat unterschiedliche Erfahrungen gemacht und erinnert sich individuell an die damaligen Geschehnisse in den Kurheimen. Im Verlauf dieses Projekts lesen Sie immer wieder sehr persönliche Erinnerungen. Auch wenn sich die allermeisten Verschickungskinder negativ an die eigene Kinderkur erinnern, möchten wir betonen, dass es durchaus auch ein paar positive Berichte von Verschickungskuren gibt. Dieses Projekt orientiert sich am Forschungsstand zu Kinderverschickungen Anfang des Jahres 2024 und setzt verstärkt auf eine journalistisch-kritische Auseinandersetzung mit dem Thema. In den folgenden Kapiteln betrachten wir vor allem die Situation der Kinderverschickungen in der ehemaligen BRD, da die Verhältnisse in der DDR von der Forschung bislang kaum berücksichtigt sind.

Triggerwarnung / Inhaltswarnung

Dieses Projekt versucht das Erlebte der Betroffenen spürbar zu machen. Kapitel für Kapitel treten wir tiefer ein in die Thematik der Kinderverschickung und die damaligen Erlebnisse der Verschickungskinder. Dadurch können starke Emotionen und/oder Erinnerungen getriggert bzw. hervorgerufen werden. Bitte geben Sie beim Lesen der Inhalte auf sich Acht und nutzen Sie falls nötig die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme für Betroffene.

  • Bild: Initiative Verschickungskinder e.V.



Zahlen und Fakten



In diesem Bereich finden Sie einführende Informationen rund um die Thematik der Kinderverschickung: Wo, wann und warum fanden Kinderverschickungen in Deutschland statt und wer war alles Teil dieses Systems?

> Im nächsten Abschnitt wird es interaktiv. Klicken Sie sich in Ruhe durch die Fragen und erfahren Sie das Wichtigste zur Kinderverschickung in Kürze. Sobald Sie fertig sind, treten wir die erschütternde Reise in die Zeit der Kinderverschickungen an.

  • Bild: AWO Bremerhaven
Wo fanden Kinderverschickungen statt?

Kinderverschickungen fanden in Deutschland sowohl in der ehemaligen BRD als auch in der DDR statt. Es ist wichtig, die Kinderverschickung von der sog. Kinderlandverschickung abzugrenzen, die umfassende Evakuierungsmaßnahmen während des Zweiten Weltkrieges meint.

Wann fanden Kinderverschickungen statt?

In Kinderkuren wurden Kinder nach dem Zweiten Weltkrieg, von ca. 1950 bis 1990 verschickt. Vereinzelt gab es auch noch nach 1990 Verschickungen. Ab den 1980er Jahren lösten Mutter-Kind-Kuren sie zunehmend ab.

Wer wurde verschickt?

Verschickungskinder waren in der Regel zwischen 2 und 12 Jahre alt. Verschickung konnte jedes Kind treffen, unabhängig vom sozialen Hintergrund.

Wer hat verschickt?

Die Verschickung in Kinderkuren erfolgte auf Empfehlung von Ärzten, Gesundheitsämtern, Jugendämtern oder auch Krankenkassen. Die Anregung zur Kinderverschickung kam teilweise auch vom Arbeitgeber der Eltern, etwa von der Bahn oder der Post.

Wie lange dauerte eine Verschickung?

Eine Kinderverschickung dauerte zwischen 4 und 12 Wochen. Üblich waren 6-Wochen-Kuren mit der Möglichkeit zur Verlängerung.

Warum hat man verschickt?

Das angebliche Ziel der Kur war die Genesung körperlich oder konstitutionell kranker Kinder. Doch die wenigsten Kinder konnten sich tatsächlich in ihrer Kur erholen.

Was haben Kinder während ihrer Verschickung erlebt?

Viele Kinder litten in den Wochen, die sie weit weg von ihren Familien in den Kurheimen verbringen mussten, unter starkem Heimweh, Verlustängsten und den harten Erziehungsmethoden des Personals. Oft wird sich in Zusammenhang mit den Verschickungen an körperliche Gewalt, psychische Gewalt und Demütigungen erinnert. Teilweise wird von sexuellen Übergriffen, Sedierungen oder illegalen Medikamententest berichtet. Auch die Rückkehr und Wiedereingliederung in ihre Familien, wird von Verschickungskindern teilweise als sehr schwierig erinnert. 

Wie viele Kinderverschickungen gab es?

Die geschätzte Zahl an Kinderverschickungen liegt nach Hochrechnungen von Anja Röhl zwischen 8 und 12 Millionen. Niedrigere Schätzungen beziehen sich eher auf die Zahl an Verschickungskindern, höhere Schätzungen auf die Zahl an Kinderverschickungen. Denn: Manche Kinder wurden häufiger als einmal in Kur verschickt.

  • Bild: Rudolf Friedrich, Stadtarchiv Bad Rappenau
0%

der befragten Verschickungskinder bewerten ihre Erholungskur negativ. (Report Mainz, 2019)



0%

der Befragten erinnern sich an Bestrafungen.

(Report Mainz, 2019)



0%

leiden bis heute an den Folgen ihrer Verschickung.(Report Mainz, 2019)



  • Bild: AKVBW e.V.



Die Verschickung



Verschickungskinder erinnern sich

Im Rahmen dieses Projekts haben wir mit Verschickungskindern über ihre Erlebnisse in deutschen Kurheimen zwischen 1950 und 1990 gesprochen. In den nächsten Kapiteln berichten sie über ihre Erinnerungen an Personal, Pädagogik und den Kuralltag - und davon, dass dort von Erholung keine Spur war.

  • Bild: AKVBW e.V.

Trudel wurde 1954 im Alter von 3,5 Jahren nach Bad Dürrheim verschickt. Ihre Kur dauerte vermutlich länger als 6 Wochen.

  • Bild: AKVBW e.V.

Joachim wurde zwischen 1956 und 1959 insgesamt viermal in drei verschiedene Heime im Allgäu und Westerwald verschickt. Bei seiner ersten Verschickung war er 7 Jahre alt.

  • Bild: Ulrich Privatbesitz

Ulrich wurde 1963 mit 5 Jahren nach Scheidegg im Allgäu verschickt. Auf Anraten seines Kinderarztes kam er dorthin, um "ein bisschen was auf die Rippen zu bekommen".

  • Bild: AKVBW e.V.

Gerhard wurde 1964 im Alter von 6 Jahren in ein Kindersolbad in Bad Rappenau verschickt. Angeblicher Grund war sein chronischer Schnupfen.

  • Bild: Initiative Verschickungskinder e.V.



Die Heime





Erholungsheime, Kurheime, Kinderheime oder Verschickungsheime

Mindestens 8 bis 12 Millionen Kinder verbrachten in den 1950er bis 1980er Jahren Kuraufenthalte in deutschen Erholungsheimen und Kinderheilstätten. Mal ging es zur Kinderkur in die nähere Umgebung, ein andermal reisten die Kinder mit dem Zug durch ganz Deutschland, um ihre "Erholung" anzutreten. Es ging in die Berge, an die See und in verstreut liegende Solebäder. Fast immer waren Kurorte wie Sylt, Amrum, das Allgäu oder der Schwarzwald das Ziel.

In der Zeit zwischen 1950 und 1990 betrieben Krankenkassen, Wohlfahrts- und Sozialverbände sowie hunderte private Träger und Einzelpersonen in Deutschland über 1100 Erholungsheime - und noch sind nicht alle Erholungsheime identifiziert.

Ob Kurheim, Erholungsheim, Kinderheilstätte, Verschickungsheim oder Kinderheim – im Kontext der Kinderverschickung benennen diese Begriffe alle das gleiche: Den Ort, an dem für Verschickungskinder von Erholung keine Spur war.

Erfahren Sie mehr zur Lage und Trägern der Kinderverschickungsheime in Deutschland



  • Bild: Initiative Verschickungskinder e.V.



Transport und Ankunft





Ich erinnere mich daran, dass ich mit vielen anderen Kindern in der Bahnhofshalle stand, ein Plakat um den Hals mit Namen und Ankunftsort. Eine Ordensschwester rief alle Kinder zusammen, die zusammengehörten und brachte uns in die Abteile. Für uns Kinder war es eine der ersten Zugfahrten überhaupt. Dann noch ohne Eltern, Opas oder Omas.

Brigitte, verschickt ca. 1957/1958, Erholungsheim Hallwangen bei Freudenstadt



Hals über Kopf verschickt

  • Bild: Deutsche Angestellten-Krankenkasse (DAK)

Wie Brigitte erging es vielen Kindern während ihrer Verschickung. Von den Eltern zum Bahnhof gebracht, ging alles sehr schnell, denn es sollte keine großen Abschiedsszenen geben. Man wurde dem Begleitpersonal übergeben, bekam einen Platz zugewiesen und nicht selten ein Umhängeschild mit Namen und Kurziel um den Hals.

Kinder, die in Sammeltransporten unterwegs zur Kur waren, trugen einen Anhänger, wie diesen von der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK).



  • Bild: AWO Bremerhaven

Geschicktes Ablenken bei Kind und Eltern bringt eine reibungslose Aufnahme.

Hans Kleinschmidt, Folberth (1964)



Ankunft im neuen "Zuhause"

  • Bild: Gina Feis u. Sophie Rücker

Orts- und Zeitangaben können von kleineren Kindern oft nur sehr schwer eingeschätzt werden. Viele Kinder erinnern sich an endlos wirkende Reisen mit anschließenden Wanderungen, Bus- oder Schiffsreisen bis zum Kurziel. Manche Eltern brachten ihre Kinder auch direkt mit dem Auto in die Kur. Kurz nach der Ankunft im Kurheim wurden Freunde oder Geschwisterkinder meist direkt voneinander getrennt und in verschiedenen Gruppen untergebracht. In der Zeit der Verschickung sah man sich oft nur aus der Ferne wieder.



  • Bild: AKVBW e.V.





Trudel erzählt, wie sie ihre Ankunft im Erholungsheim in Bad Dürrheim erlebt hat.

0:00/0:00



  • Bild: AKVBW e.V.







Gerhard berichtet von seinen Erfahrungen bei der Ankunft im Kindersolbad in Bad Rappenau.



0:00/0:00
  • Bild: AWO Bremerhaven



Das Personal





Die Betreuungspersonen waren sachlich und reserviert. Wenn gelegentlich eine neue junge Frau kam, die freundlich zu uns war, hörte das schnell wieder auf. (...) Den Eltern wurden Fotos von glücklichen Kindern geschickt. Wir wurden verwahrt wie Inventar und hatten möglichst pflegeleicht zu sein.

Sigrid, verschickt 1956/57, Friedenweiler



Tanten, die keine Tanten waren

In deutschen Verschickungsheimen herrschte über die Jahre hinweg permanenter Personalmangel und unzureichende Fachkraftbesetzung. Besonders während der Sommermonate, wenn die Kinderkuren boomten, arbeitete zu wenig Fachpersonal in den Heimen.

Kindererholungsheime verstanden sich selbst eher als klinische Einrichtungen. Das überwiegend weibliche Pflegepersonal, die sogenannten "Tanten", war zumeist pflegerisch ausgebildet. Nur wenige pädagogisch ausgebildete Erzieherinnen arbeiteten vor Ort und das obwohl pro Heim mindestens eine pädagogische Fachkraft vom Jugendamt vorgeschrieben war. Häufig und vor allem in den überbelegten Sommermonaten kamen Praktikantinnen und Zeitarbeiterinnen aus dem Ausland zur Unterstützung in die Heime. Auch war es üblich, dass ein Arzt im Krankheitsfall oder für Kurkontrollen zur Verfügung stand. Das Personal erinnern die meisten Verschickungskinder als vorwiegend kühl, übergriffig oder gar angsteinflößend.



  • Bild: AKVBW e.V.





Joachim beschreibt das Auftreten der Tanten während seiner Verschickung.

0:00/0:00



Ein Muster, kein Einzelfall

  • Bild: Karl-Sudhoff-Institut, Universität Leipzig

Der Kinderarzt Werner Catel war einer der höchsten NS-Euthanasiefunktionäre und zwischen 1947 und 1954 Leiter der Kinderheilstätte Mammolshöhe im Taunus. Bei von ihm angeordneten medizinischen Versuchen mit TBC-Mitteln starben vier Kurkinder.

  • Bild: Deutsches Rotes Kreuz

Während seiner Zeit als ärztlicher Leiter einer Kinderheilstätte in Bad Dürrheim führte Hans Kleinschmidt ab 1956 ohne Einwilligung der Eltern Arzneimitteltests an gesunden Verschickungskindern durch und verabreichte ihnen Präparate ohne Marktzulassung.

Die Herkunft des Personals in den Erholungsheimen war vielfältig, die Probleme vor Ort aber keine Einzelfälle, denn sie traten in Verschickungsheimen in ganz Deutschland auf. Anja Röhl erklärt das Phänomen vor allem mit der persönlichen Historie der Tanten. Während einige von ihnen in der Zeit des Nationalsozialismus beruflich geprägt wurden, wuchsen andere Tanten unter der NS-Ideologie und den Einflüssen der schwarzen Pädagogik auf. Diese Prägung zeigte sich in vielen alltäglichen Situationen, wie etwa dem Essenszwang, den strengen Toilettenregelungen und den Strafen, die viele Kindern am eigenen Leib erfahren mussten. Sowohl auf Führungsebene als auch beim Personal gab es nachweislich NS-Kontinuitäten.

Anja Röhl über mögliche Ursachen für die Zustände in deutschen Kinderverschickungsheimen.

  • Bild: AKVBW e.V.

Briefe nach Hause wurden gelesen und zensiert. Es durfte nichts Negatives drinstehen. Gegen Ende schrieb ein Kind: "Nächsten Samstag komme ich heim. Darauf freue ich mich schon". Der Brief wurde vorgelesen und zerrissen. "Das klingt so, als ob es dir hier nicht gefällt. Neuen Brief schreiben!"      

Helmut, verschickt 1959, Kinderheim "Ruhbühl" Lenzkirch im Schwarzwald 



Neuen Brief schreiben!

  • Bild: AKVBW e.V.

Briefe aus der Kur an die Eltern waren oft vorgeschrieben, das Personal ergänzte lediglich den Namen des Kindes oder das Datum. Der emotionale Zustand des Kindes schien kein verhandelbarer Faktor zu sein.

Viele Verschickungskinder erinnern sich an eine Briefzensur während ihrer Kur. Das Personal kontrollierte die Briefe auf deren Inhalt, negative Schilderungen wurden oft zerrissen. Bei Kindern, die noch nicht im schreibfähigen Alter waren, übernahmen die Tanten den Briefkontakt mit den Eltern vollständig.  

Zu dieser Vorgehensweise ruft Hans Kleinschmidt in einem Ratgeber-Buch persönlich auf: Briefzensur habe sich als unbedingt notwendig erwiesen, schließlich übernehme die Leitung während der 6 Kurwochen die ganze Verantwortung für das Kind. 

Sollten Kinder dann doch einmal etwas Negatives über die eigene Kur schreiben, solle man dem Kind erwidern: "(...) sie möchten ihren Eltern, die so weit entfernt sind, durch einen recht traurigen oder gar ablehnenden Brief nicht allzu große Sorgen machen." Seitdem das Personal in den Erholungsheimen so vorgehe, fasst Kleinschmidt zusammen, habe es kaum noch unschöne erste Briefe gegeben. 

  • Bild: AKVBW e.V.

Für Silvia war das Zu- und Abnehmen so präsent, dass sie ihren Eltern von ihrem "Kurerfolg" in einem Brief berichtete.

  • Bild: AKVBW e.V.

Auch Christa berichtet ihren Eltern stolz, dass sie ihr auferlegtes Kurziel verfolge und bereits abgenommen habe. Außerdem habe man ihr die erste Karte vorgeschrieben.

"Besuche von Eltern, Verwandten und Freunden müssen unbedingt vermieden werden!"

Unabhängig vom Alter des Kindes oder der Kurdauer durften Eltern ihre Kinder während der Kur in der Regel nicht besuchen - auf ausdrücklichen Rat Kleinschmidts.



  • Bild: Sophie Rücker u. Gina Feis



Die Pädagogik





Mit Medikamenten (Tranquilizern), die heute unsere menschliche Anteilnahme ersetzen sollen, kann man notfalls anfangs einen Versuch machen.

Hans Kleinschmidt, in Folberth (1964)



In den Kindererholungsheimen herrschte eine strenge Pädagogik, geprägt von wissenschaftlich unbestätigten Erziehungsauffassungen und -tipps von Ärzten und der schwarzen Pädagogik.

  • Bild: Ida Seele Archiv

Johanna Haarer gilt heute als Inbegriff für die NS-Erziehungsideologie.

  • Bild: k.A.

In ihrem Buch "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" propagiert Haarer für eine autoritäre und lieblose Erziehung des Kindes.

  • Bild: k.A.

Auch die Kinderärztin Hannah Uflacker rät in ihrem "praktischen Ratgeber" zu einer lieblosen Erziehung und maximal einem "Spielviertelstündchen" pro Tag mit dem Kind.

  • Bild: k.A.

Der österreichische Kinderarzt Adalbert Cznery sieht den Arzt als "Erzieher des Kindes" und schrieb ein ganzes Werk über "Erziehung" aus ärztlicher Sicht.

  • Bild: k.A.

Czerny rät zur Erziehung durch Angst und Strafe: "Der Effekt der körperlichen Strafe wird nur dann erreicht, wenn sie mit einer tatsächlichen Schmerzempfindung verknüpft ist."

Kinderverschickung - geprägt von der NS-Ideologie?

Bücher von ehemaligen Nazi-Ärztinnen, wie etwa Johanna Haarer und Hannah Uflacker, allen voran "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" und "Mutter und Kind", beeinflussten nicht nur Eltern, sondern auch Erziehungspersonal, das in den Verschickungsheimen arbeitete.

So schreibt Johanna Haarer 1934 in "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind":

Auch das schreiende und widerstrebende Kind muss tun, was die Mutter für nötig hält, und wird, falls es sich weiterhin ungezogen aufführt, gewissermaßen ,kaltgestellt‘, in einen Raum gebracht, wo es allein sein kann, und so lange nicht beachtet, bis es sein Verhalten ändert. Man glaubt gar nicht, wie früh und wie rasch ein Kind solches Vorgehen begreift.

Haarers Buch wurde zum Bestseller während der NS-Zeit und in abgemilderter Form sogar noch bis 1987 verlegt. Mit über 1,2 Millionen Verkaufsexemplaren prägte sie damit den pädagogischen Geist vieler Menschen.

Erfahren Sie mehr zur NS-Kontinuität in Kinderverschickungsheimen in Deutschland.

  • Bild: Bohdan Chreptak, Pixabay

Das Ratgeber-Buch von Sepp Folberth

Das Standardwerk schlechthin im Kontext der Kinderverschickungen war Sepp Folberths "Kinderheime - Kinderheilstätten" in den Ausgaben 1956 und 1964.

Der Kinderarzt Hans Kleinschmidt gibt unter verschiedenen Überschriften zahlreiche pädagogische Ratschläge und Handlungsempfehlungen für Kinderheime und -erholungsstätten: Abartigkeiten, Führung und pädagogische Probleme, Heimweh, Strafen, Ausreißen und mehr. Nach Selbstaussage verfolgt das Buch den Zweck, die Hausärzte für eine Kinderverschickung zu interessieren.

Kleinschmidt schreibt 1964 in seinem selbst formulierten Strafenkatalog für Kinder in Erholungsheimen:

  • Bild: Deutsches Rotes Kreuz

Der Kinderarzt und Leiter einer Kinderheilstätte in Bad Dürrheim Hans Kleinschmidt ist wichtigster Autor bei Sepp Folberth. Er formulierte eine 18-teilige Strafenliste für Kinder in Kur.

  • Bild: k.A.

"Kinderheime - Kinderheilstätten" war das Standardwerk für den reibungslosen Ablauf von Kinderverschickungen. Es enthält neben einer Liste mit Verschickungsheimen in Deutschland zahlreiche Strafempfehlungen.

  • Bild: k.A.

Neben Hans Kleinschmidt schrieb auch der an der NS-Euthanasie beteiligte Kinderarzt Albert Viethen für den Folberth-Verlag. Er rät in Folberth (1956) dazu, besonders junge und sensible Kinder mindestens 8-12 Wochen zu verschicken. Erst dann stelle sich Erholung ein.

Nur in besonders gelagerten Situationen, die sich kaum vermeiden lassen, kann einmal die "Hand ausrutschen". Man soll sich dann aber nicht hinreißen lassen, ins Gesicht zu schlagen - es gibt eine bessere Stelle.
Bei Kindern, die beißen und kratzen, bewährt es sich manchmal, ein Schild für eine oder einige Stunden umzuhängen: "Vorsicht, ich beiße", "Vorsicht, ich kratze".



  • Bild: k.A.



Das Verschickungsheim



Triggerwarnung

Die folgenden Räume eines mit historischen Bildern nachempfundenen Verschickungsheimes versuchen das Erlebte der Betroffenen spürbar zu machen. Raum für Raum treten wir tiefer ein in die damaligen Erlebnisse der Verschickungskinder. Dadurch können starke Emotionen oder Erinnerungen getriggert bzw. hevorgerufen werden.

Wie sah ein Verschickungsheim damals aus? Wie haben Betroffene die Verschickungsheime erlebt? Und was assoziieren sie mit den einzelnen Räumen, wenn sie an ihre eigene Verschickung zurückdenken?

  • Bild: Initiative Verschickungskinder e.V.



Tatort: Schlafsaal





Die Matratzen waren schon vorgeformt, denn jedes Kind musste mit dem Gesicht zur Wand schlafen! Umdrehen war nicht erlaubt und Weinen oder gar Schluchzen auch nicht. Zum Beispiel wollte ich mich mit einem anderen Kind, das vor Heimweh weinte, flüsternd solidarisieren. Diese Ruhestörung wurde umgehend bestraft. Dies, indem man mit der Bettdecke im Speisesaal auf der Holzbank weiterschlafen musste.

Marlies, verschickt 1963, Kinderheim Kniebis im Schwarzwald



Der Zwang, schlafen zu müssen

Sobald der Kurtag geschafft war, ging es für die Kinder in den Schlafsaal und ins Bett. Doch so wirklich von der Kur erholen, konnten sie sich auch über Nacht nicht. Zahlreiche Kinder plagte ein quälender Toilettendrang, ausgelöst durch ein Toilettenverbot, das nachts in einigen Heimen herrschte. Es schrieb den Kindern vor, die Toilette nur zu bestimmten Uhrzeiten und nicht in der Nacht zu benutzen.

Getrieben von Angst, Heimweh und dem Drang auf Toilette gehen zu müssen, sind einige Kinder während der Kur wieder zu Bettnässern geworden – und das, obwohl sie vor der Kur bereits trocken waren. Arne Burchartz erklärt diese körperliche Entwicklung mit der Traumatisierung, die viele Kinder durch die lieblose Pädagogik der Tanten erfahren haben.

Erfahren Sie mehr zur psychotherapeutischen Einordnung von Kinderverschickungen.

  • Bild: Initiative Verschickungskinder e.V.

Schluchzen und umdrehen verboten

Neben einem Toilettenverbot galt ein nächtliches Rede- und Aufstehverbot. Sollte ein Kind weinen oder noch mit der Freundin aus dem Nachbarbett tuscheln, kam es immer wieder zu Bestrafungen. So erinnern sich Verschickungskinder daran, dass sie vor den Augen der anderen Kinder als "Täter" vorgeführt oder aber über Nacht in den kalten Flur oder in eine dunkle Kammer gebracht wurden.

Beim Mittagsschlaf, der meistens nach dem Mittagessen und vor dem Nachmittagsprogramm stattfand, gab es in manchen Heimen die Regel, dass sich die Kinder während des ein- bis zweistündigen Mittagsschlafs nicht bewegen durften. Dies galt auch für die Therapiemaßnahme Liegekur, die draußen und unter freiem Himmel stattfanden.



  • Bild: Ulrich Privatbesitz





Ulrich erzählt die Geschichte seines Bettnachbars.

0:00/0:00



  • Bild: AKVBW e.V.





Joachim berichtet von Vorfällen mit dem Betreuungspersonal im Schlafsaal.





0:00/0:00



Regeln für die Kurkleidung

  • Bild: AKVBW e.V.

Packliste für eine 6-wöchige Erholungskur. Je nach Jahreszeit variierte der Anteil an warmer bzw. luftigerer Kleidung.

Damit das Anziehen und Waschen der Kleidung in Kur schnell und reibungslos ablief, waren die Eltern vom Personal angehalten, die Kleidung ihrer Kinder im Vorfeld zu präparieren. Jedes Kleidungsstück musste mit einem Namensschild oder einer Markierung versehen werden.

Die Eltern schickten ihre Kinder mit Kleidung für verschiedene Anlässe in Kur, darunter sogar ein Sonntagsoutfit für besondere Anlässe. Doch viele Kinder erinnern sich, dass sie während ihrer Kur lange Zeit dieselbe Kleidung tragen mussten und das Personal sie nur selten ausgetauscht und gewaschen hat. Das Sonntagsoutfit kam nur selten zum Einsatz.

  • Bild: Kettling & Krüger, Verkehrsamt Bad Rappenau

Helmut, Brigitte und Joachim schildern Erinnerungen an den Schlafsaal in ihrem Heim:







  • Bild: AKVBW e.V. & Die Mannheimer Schwesternschaft



Tatort: Speisesaal





Das Essen, aus heutiger Sicht eine Katastrophe. Was nicht gegessen wurde, wurde einem so lange vorgesetzt, bis es gegessen war. Hast du es erbrochen, - nochmals essen!

Christel, verschickt 1957, Kinderkurheim Gugelberger



Kinder, esst auf!

Essen war das Thema schlechthin in Kinderkur. Beinahe alles drehte sich um die Gewichtszunahme oder -abnahme der Kinder. Vor allem in den Jahren der Nachkriegszeit prägte das Essen-müssen den Alltag in den Erholungskuren. Aber auch darüber hinaus, in einer Zeit, in der es in Deutschland kaum Unterernährung gab, berichten Verschickungskinder von quälendem Essenszwang.

Dabei spielte es für das Personal keine Rolle, ob das Kind tatsächlich hungrig war. Es musste gegessen werden, was auf dem Teller war. Verschickungskinder berichten von übermäßig viel Essen am Morgen, Mittag, Nachmittag und Abend und gleich mehreren Portionen. Geschmacklich wird das Essen als eintönig, fad und stark sättigend erinnert. Die Atmosphäre im Speisesaal war kühl und ungemütlich, in einigen Kurheimen herrschte sogar Redeverbot während dem Essen.



  • Bild: AKVBW e.V.





Joachim erzählt vom Ablauf und den Regeln im Speisesaal.





0:00/0:00



  • Bild: AKVBW e.V.



Trudel berichtet von ihren Erinnerungen an das Essen in ihrer Erholungskur in Bad Dürrheim.



0:00/0:00



Essen bis zum Erbrechen

Besonders schlimm für die Kinder war die Tatsache, dass alles aufgegessen werden musste. Kinder versuchten verzweifelt, das Essen in sich hineinzustopfen. Dieser Versuch endete nicht selten in Erbrechen und Übelkeit. Leider – und das wird erschreckend oft erinnert – mussten viele Kinder daraufhin sogar das Erbrochene aufessen.

Auf nicht-aufgegessene Speisen folgten teilweise harte Strafen. In der Ecke stehen, soziale Isolation, Spielverbot oder körperliche Bestrafungen sind nur einige davon.



  • Bild: AWO Bremerhaven

Kinder sollten in Erholungskur zu- oder abnehmen. Kleinschmidt empfiehlt in seinem Ratgeber 2303,8 Kalorien pro Tag für ein Kind. Zum Vergleich: Heute empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung e.V. Kindern zwischen 7-10 Jahren eine Kalorienzufuhr von ca. 1800 kcal/Tag und damit signifikant weniger.

  • Bild: k.A.

Auszug aus der Speiseplan-Empfehlung von Hans Kleinschmidt in Folberth von 1964.

  • Bild: Initiative Verschickungskinder e.V.
  • Bild: AKVBW e.V.





Trudel erinnert sich an Routinen in ihrer Kinderkur, wie das regelmäßige Wiegen.

0:00/0:00



  • Bild: Ulrich Privatbesitz





Ulrich erzählt von Strafen während des gemeinsamen Essens.

0:00/0:00
  • Bild: Norddeutscher Rundfunk

Sigrid, Joachim, Marlies und Helmut schildern Erinnerungen an den Speisesaal in ihrem Heim:







  • Bild: Initiative Verschickungskinder e.V.



Tatort: Waschraum





Duschen mussten wir immer in Gruppen. Wir standen in einem weiß gekachelten Raum unter ganz vielen Duschköpfen, die an der Decke hingen. (...) Das Schlimmste am Duschen war das kalte Abduschen danach. Da musste jede durch. (...) Erst vorne, dann einmal umdrehen, und hinten.

Anonym, verschickt 1991, Wyk auf Föhr



Sonntag ist Waschtag

Einmal in der Woche, häufig sonntags, war Waschtag in den Kurheimen. Für die Kinder hieß es dann: die Kleidung ausziehen und vor den Augen der anderen Kinder in die Dusche oder Wanne steigen. Bei vielen Kindern löste dieses Vorgehen starke Schamgefühle und Angstzustände aus, doch das Mitgefühl der Tanten blieb ihnen verwehrt. Das ganze Jahr über - auch im Winter bei eisigen Temperaturen - kam in vielen Kurheimen sehr kaltes Duschwasser zum Einsatz.

Gefürchtetes Duschen

Gerade im Kontext der wöchentlichen Duschen erinnern sich Verschickungskinder an körperliche und sexualisierte Gewalt, die ihnen widerfahren ist. Etwa kam es vor, dass das Personal über die Genitalien der Kinder witzelte oder aber ausgiebige Untersuchungen an den nackten Kinderkörpern vollzog. Andere Kinder erinnern sich an Schläge in der Badewanne, wenn sich das Wasser zu stark bewegte. Bis heute tragen viele Verschickungskinder schwere Traumata durch dieses Vorgehen.



  • Bild: AKVBW e.V.





Joachim berichtet von seinen Erfahrungen im Waschraum des Kinderhaus Blockwiese im Allgäu.



0:00/0:00
  • Bild: Kettling & Krüger, Stadtarchiv Bad Rappenau

Verschickungskinder aus Bad Sachsa, Scheidegg und Norderney schildern Erinnerungen an den Waschraum in ihrem Heim:







  • Bild: Initiative Verschickungskinder e.V.



Verschickungsheime in Deutschland: Lage und Träger





Die Lage

Verschickungsheime gab es in ganz Deutschland - sowohl in der BRD als auch in der DDR. Besonders beliebte Standorte für Kurheime waren Orte in der Nähe von Thermalquellen, dem Meer oder in unmittelbarer Nähe zu Wald und Wiesen. So gingen viele Verschickungskuren an die Nordsee, in den Schwarzwald, den Bayerischen Wald oder in die Eifel.

  • Bild: nexus Institut
  • Bild: nexus Institut
  • Bild: nexus Institut

Obwohl es im Jahr 1964 in Baden-Württemberg mit Abstand die meisten Heime gab, setzte Nordrhein-Westfalen mit durchschnittlich 84 Heimplätzen zu 55 in Baden-Württemberg die mit Abstand größten Kinderkuren um und kommt damit auf ähnlich viele Verschickungen im Jahr 1964 wie Baden-Württemberg.



Die Träger: ein lukratives Geschäft

  • Bild: nexus Institut

1964 befanden sich viele der Heime in privater Hand und erwiesen sich als recht profitabel.

Bei Sepp Folberth finden sich verschiedene Angaben zum Tagessatz für einen Tag Kinderkur, die zwischen 10 und 18 DM liegen. Andere Akten sprechen sogar von 106 DM pro Tag.

Selbst für einen niedrig angesetzten Mittelwert von 12 DM pro Tag und pro Kind ergibt sich aus den im Jahr 1964 839 angegebenen Heimen mit einer Bettkapazität von 56.000 Betten eine Grobschätzung von 225 Millionen DM Umsatz pro Jahr für die Kinderverschickung. 



  • Bild: Initiative Verschickungskinder e.V.



Kinderverschickung in Baden-Württemberg





Das Bundesland mit den meisten Kurheimen

In Baden-Württemberg standen im deutschlandweiten Vergleich die meisten Kurheime. Grund für diese Entwicklung ist vermutlich das hohe Vorkommen an Sole- und Heilbädern und die günstige Lage zu Wald und Bergen.

Es lohnt sich daher, einen detaillierten Blick auf die Kurheime in Baden-Württemberg zu werfen. Wie diese interaktive Karte zeigt, standen besonders viele Kurheime im Schwarzwald und in der Nähe von Freiburg. Aber auch in der Region um Stuttgart, die reich an Thermalquellen ist, gab es viele Verschickungsheime.

Nun sind Sie sind an der Reihe. Navigieren Sie in Ruhe durch die interaktive Karte. Mit Klick auf den Ortsmarker erhalten Sie weitere Informationen zum Kurheim.



Ich bin damit einverstanden, dass mir Diagramme von Datawrapper angezeigt werden.



Hinweis: Diese Karte hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit und dient nur als Überblick. Sie suchen nach einem ganz bestimmten Kurheim oder möchten genauere Informationen? Das Landesarchiv Baden-Württemberg hat eine Liste nahezu aller Verschickungsheime erstellt, die zwischen 1950 und 1980 in Baden-Württemberg betrieben wurden. Hier gelangen Sie zur Liste.

  • Bild: Rudolf Friedrich, Stadtarchiv Bad Rappenau



Experteninterviews zur Kinderverschickung



Hinweis

Die Thematik der Kinderverschickung ist äußerst komplex, da sie verschiedene Einflüsse und Forschungsbereiche umfasst. Die Forschung zu Kinderverschickungen in Deutschland steht noch am Anfang. Um ein umfassendes Bild darüber zu erhalten, was Millionen von Kindern zwischen 1950 und 1990 in deutschen Kurheimen erlebt haben, ist es notwendig, die Thematik aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten.

Wir haben mit verschiedenen Expertinnen und Experten gesprochen, von denen jede:r eine eigene Perspektive und Expertise in Bezug auf die damaligen Ereignisse einbringt. In den nächsten Kapiteln betrachten wir die Kinderverschickung aus medizinisch-ethischer, psychotherapeutischer und gesellschaftskritischer Sicht.

  • Bild: Katrin Raabe

Die Journalistin und Pädagogin Anja Röhl setzt sich seit vielen Jahren für die Aufklärung von Kinderverschickungen in deutschen Kurheimen ein. Hier geht es zum Interview mit Anja Röhl.

  • Bild: Katrin Raabe

Der Medizinethiker Thomas Beddies forscht an der Berliner Charité zur Thematik "Kinder als Opfer nationalsozialistischer Medizinverbrechen". Hier geht es zum Interview mit Thomas Beddies.

  • Bild: Ivo Mayr

Die Pharmazie-Historikerin Sylvia Wagner forscht zu Arzneimittelversuchen an Heim- und Verschickungskindern. Hier geht es zum Interview mit Sylvia Wagner.

  • Bild: Conny Wenk

Die Journalistin Hilke Lorenz setzt sich seit vielen Jahren für die Aufklärung von Kinderverschickung ein und gibt Verschickungskindern in ihren Texten eine Stimme. Hier geht es zum Interview mit Hilke Lorenz.

  • Bild: Katrin Raabe

Die Forscherin und Psychologin Ilona Yim forscht zu körperlichen Folgen von Kinderverschickung und darüber, wie eine traumatisierte Kindheit krank machen kann. Hier geht es zum Interview mit Ilona Yim.

  • Bild: k.A.

Der Kinder- und Jugendpsychotherapeut Arne Burchartz forscht zu psychologischen Folgen traumatisierter Kindheit. Hier geht es zum Interview mit Arne Burchartz.

  • Bild: Landesarchiv Baden-Württemberg

Der Archivar Christian Keitel ist Leiter des Projektes zur Aufklärung von Kinderverschickung vom Landesarchiv Baden-Württemberg und für das Zustandekommen des Anbietungsmoratoriums der Verschickungskinderakten verantwortlich. Hier geht es zum Interview mit Christian Keitel.

  • Bild: k.A.

Andrea Weyrauch ist Vorstandsvorsitzende des Landesvereins Aufklärung Kinderverschickungen Baden-Württemberg (AKVBW e.V.) und für die Kommunikation mit der Landespolitik zuständig. Hier geht es zum Vereinsvideo.

  • Bild: Sophie Rücker u. Gina Feis

Gerhard Stoll ist ebenfalls Vorstandsvorsitzender des AKVBW e.V. und in der Betroffenenhilfe aktiv. Hier geht es zum Vereinsvideo.

  • Bild: Sophie Rücker u. Gina Feis

Trudel Haas ist Gründungsmitglied des AKVBW e.V. und Ansprechpartnerin für Betroffene von Kinderverschickung. Hier geht es zum Vereinsvideo.

  • Bild: Initiative Verschickungskinder e.V.

Uwe Rüddenklau ist Vorstandsvorsitzender der Initiative Verschickungskinder e.V., dem Bundesverein zur Aufklärung von Kinderverschickung und für die Kommunikation mit der Bundespolitik zuständig. Hier geht es zum Vereinsvideo.

  • Bild: Katrin Raabe



Ursachenstränge der Grausamkeit nach Anja Röhl



Ein Interview mit Sonderpädagogin Anja Röhl

  • Bild: Katrin Raabe

Anja Röhl ist Sonderpädagogin, Autorin und Mitgründerin der Initiative Verschickungskinder e.V. Diese fungiert seit 2019 bundesweit als Selbsthilfegruppe für alle Betroffenen von Kinderverschickung und seit 2023 als eingetragener Verein.

Sie hält Vorträge über das Thema Kinderverschickung, sammelt Betroffenenberichte und setzt sich für die Aufarbeitung und Aufklärung in der Öffentlichkeit ein. Besonders wichtig sind ihr die Anerkennung des Leids der Betroffenen und die Übernahme von Verantwortung. Auch in den Medien tritt Anja Röhl immer wieder als Expertin und Betroffene auf, um Verschickungskindern eine Stimme zu geben.

Im Interview berichtet sie uns von "Ursachensträngen der Grausamkeit", die den Fokus auf die Erforschung des Ursprungs und der Hintergründe der bis in die 1980er Jahre anhaltenden grausamen Zustände in deutschen Kindererholungsheimen setzen.



0:00/0:00



Weitere Informationen und Hintergründe zum Thema Kinderverschickung und den "Ursachensträngen der Grausamkeit“ finden Sie in Anja Röhls Buch „Das Elend der Verschickungskinder – Kindererholungsheime als Orte der Gewalt".





NS-Kontinuitäten während der Kinderverschickung



Ein Interview mit Medizinethiker Prof. Dr. Thomas Beddies

  • Bild: Katrin Raabe

Thomas Beddies ist Professor für Medizingeschichte und Medizinethik an der Charité in Berlin. Was er in seiner Forschung herausgefunden hat, unterstreicht, was bereits die Kapitel Personal und Pädagogik zeigten - nämlich, dass es sowohl auf Personalebene als auch Führungsebene spürbare NS-Kontinuitäten in der Kinderverschickung gab.

Im Interview erzählt er, aus welcher Idee heraus die Kinderverschickung entstand. Außerdem geht er auf die verschiedenen Ebenen ein, innerhalb derer die Ideologien des NS spürbar wurden. Beddies unterscheidet dabei zwischen personellen, strukturellen und pädiatrischen/ärztlichen Kontinuitäten.



0:00/0:00



  • Bild: Katrin Raabe



Arzneimittelversuche und Sedierungen



Ein Interview mit Pharmazie-Historikerin Dr. Sylvia Wagner

  • Bild: Ivo Mayr

Was Sylvia Wagner in den letzten Jahren ans Licht gebracht hat, ist erschreckend: Ab den 1950er Jahren wurden in deutschen Kinderkurheimen Medikamentenversuche an Kindern durchgeführt.

Im Interview erzählt sie uns, wie sie auf die Medikamentenversuche an Kurkindern gestoßen ist, welche Forschungserkenntnisse sie gewonnen hat - und wer eigentlich die Täter sind.

0:00/0:00



Sylvia Wagner wünscht sich für die Aufklärung von Kinderverschickungen in Zukunft vor allem Folgendes:

Es wäre nicht nur schön, sondern auch notwendig, dass neben Nordrhein-Westfalen auch andere Bundesländer die Aufarbeitung von Medikamententests an Verschickungskindern vorantreiben. Denn diese Versuche haben mit ziemlicher Sicherheit nicht nur in einem Bundesland stattgefunden.

Und damit hat sie Recht. Denn: Schon seit ein paar Jahren gibt es Beweise für Medikamententests, etwa in Bad Dürrheim im Bundesland Baden-Württemberg (siehe Quellenverzeichnis). Unter der Leitung des Kinderarztes Hans Kleinschmidt fanden hier zwischen 1956 und 1973 verschiedene Arzneimittelversuche an Kurkindern statt.

Doch bislang fehlt die Bereitschaft für die Bereitstellung von Forschungsgeldern seitens des Landesregierung in Baden-Württemberg für eine umfassende Medikamentenstudie. Das muss sich ändern, findet Sylvia Wagner.

Weitere Funde

  • Bild: Grünenthal GmbH

In einer Caritas-Lungenheilanstalt in Wittlich (Rheinland-Pfalz) wurde nachweislich der Einfluss von Contergan an hunderten Säuglingen und kranken Kindern getestet. Contergan wurde 1961 wegen schweren Nebenwirkungen - darunter Fehlbildungen und Totgeburten - vom Markt genommen.



  • Bild: Ivo Mayr



Hintergründe eines Verschickungssystems



Ein Interview mit Journalistin Hilke Lorenz

  • Bild: Conny Wenk

Hilke Lorenz ist Historikerin, Autorin und Journalistin. Unter anderem für die Stuttgarter Zeitung hat sie zahlreiche Artikel über die Thematik der Kinderverschickung veröffentlicht. In ihrem Buch "Die Akte Verschickungskinder - Wie Kurheime für Generationen zum Albtraum wurden" erzählt sie die Geschichten von Betroffenen und versucht gleichzeitig die Hintergründe des Systems Kinderverschickung zu beleuchten.

Im Interview spricht Hilke Lorenz tiefergehend über diese Hintergründe. Vor allem schockiert die Erkenntnis, wie einfach es war, ein Verschickungsheim zu eröffnen. Wer ausreichend Platz hatte, konnte ohne jegliches pädagogische Konzept Kinder bei sich aufnehmen.



0:00/0:00



Geheimes Kinderwissen

Die negativen Erfahrungen der Kinder blieben oft undeckt und damit geheimes Kinderwissen. Hilke Lorenz führt aus:

In der Regel ist Kindern einfach nicht geglaubt worden. Da setzt sich dann die Perfidität dieses Systems fort. Also Kinder zu Objekten zu machen, Kinder nicht ernst zu nehmen. Und diesen Objekten, warum sollte man denen glauben?
  • Bild: Ulrich Privatbesitz





Auch Ulrich bestätigt, dass den Erzählungen von Geschehnissen aus den Verschickungsheimen Zuhause kein Glauben geschenkt wurde.



0:00/0:00



Steht eine Industrie hinter den Kinderverschickungen?

Für eine ganzheitlichere Aufarbeitung der Geschehnisse muss noch viel Forschungsarbeit in den Archiven geleistet werden. Es besteht jedoch bereits heute die Vermutung einer Industrie hinter den Kinderverschickungen. In Ihrem Buch geht Hilke Lorenz auch auf den Begriff der "Gesundheitsfürsorgeindustrie" näher ein. Gesteuert wurde diese Industrie allerdings nicht nachweislich von einer zentralen Stelle. Sie erstreckte sich vielmehr auf einen Flickenteppich von unterschiedlichen Trägern und Heimen, die von den Verschickungen vor allem finanziell profitierten. Als Antwort auf die Frage, warum sich das System der Kinderverschickungen über so viele Jahre hinweg aufrechterhalten konnte, steht für Hilke Lorenz vor allem der Profit im Vordergrund:

Ein extrem träges System, das sich nicht so leicht verändert, wenn es doch funktioniert. Es war zu lange profitabel für Kindererholungseinrichtungen, sich auf diesem Markt zu bewegen.



  • Bild: AKVBW e.V.





Trudel berichtet von ihren Verschickungsgründen und der Rolle, die den Ärzten bei der Verschickung zuteil wurde.

0:00/0:00



  • Bild: Sophie Rücker u. Gina Feis



Gesundheitliche Folgen der Kinderverschickung



Ein Interview mit Psychologin Prof. Dr. Ilona Yim (University of California, Irvine)

  • Bild: Katrin Raabe

Ilona Yim ist Professorin an der University of California Irvine und forscht seit einigen Jahren intensiv zu gesundheitlichen Folgen von andauerndem Stress. Vor allem geht es ihr um die Frage, welche Folgen die Kinderverschickung - die häufig mit permanentem Stress einherging - auf die Gesundheit der Verschickungskinder hat.

Sie widmet sich in ihrer Forschung zwar gezielt den Verschickungskindern, ihre Forschungsergebnisse lassen sich aber auch auf ähnliche Sachverhalte übertragen.

Im Interview berichtet Yim von ersten Forschungsergebnissen und den aktuellen Studien zum Thema. Außerdem geht sie genauer auf mögliche gesundheitliche Folgen ein, die Kinder durch ihre Verschickung davongetragen haben könnten.



0:00/0:00



  • Bild: Katrin Raabe



Psychotherapeutische Einordnung der Kinderverschickung



Ein Interview mit Kinder- und Jugendpsychotherapeut Arne Burchartz

  • Bild: k.A.

Arne Burchartz ist Kinder- und Jugendpsychotherapeut sowie Diplom-Pädagoge. Täglich behandelt er in seiner eigenen Praxis in Öhringen Kinder und Jugendliche. Als Experte für das frühkindliche Trauma und dessen Aufarbeitung hat er sich auch mit den Folgen der Kinderverschickung auf die erwachsene Psyche auseinandergesetzt und klärt über die Folgen der "pädagogischen" Maßnahmen in Kindererholungsheimen sowie den Bewältigungsmechanismen auf, die die kindliche Psyche während und nach dieser Zeit geprägt haben.

Für Arne Burchartz ist vor allem eines von großer Bedeutung:

Es ist sehr ernst zu nehmen, dass Menschen durch diese Kinderverschickungen lebenslang geschädigt wurden.

Im Interview erklärt er, welche Auswirkungen eine Kinderverschickung auf die kindliche Psyche haben kann und welche Folgeerkrankungen sich daraus entwickeln können. Immer wieder kommt hier der Begriff des Traumas zum Einsatz.

Herr Burchartz, was versteht man in der Psychotherapie unter einem Trauma?

Das Wort Trauma kommt aus dem griechischen und heißt eigentlich Verletzung. Wir kennen das auch aus dem körperlichen Bereich. Wenn Sie sich ein Bein brechen, dann ist es ein körperliches Trauma. Der Begriff hat Eingang gefunden in die Beschreibung psychischer Verletzungen. Diese entstehen dann, wenn ein Betroffener von einem Ereignis überrannt oder überrollt wird, mit dem er vielleicht nicht gerechnet hat. Ein Ereignis, das ihn in große Angst versetzt und für das es psychisch keine Bewältigungsmechanismen gibt.

Wenn es nicht gelingt traumatisierten Menschen rechtzeitig zu helfen, kann sich das traumatische Geschehen in der Psyche festsetzen. So kann es passieren, dass das eigentliche Trauma erst sehr viel später aufgedeckt wird. Auch Schamgefühle und Schuldgefühle spielen hier eine Rolle. Oft bleiben Verletzlichkeit und Scham im Inneren, obwohl die betroffenen Personen nach außen hin fest im Leben stehen.

  • Bild: AKVBW e.V.





Trudel erzählt, wie ihre Verschickung sie nachhaltig geprägt hat und von den Folgen der Verschickung während ihrer Schulzeit.



0:00/0:00
0:00/0:00

Das Trauma historisieren

Laut Arne Burchartz liegt das Problem eines Traumas nicht in der Vergangenheit, sondern darin, dass die menschliche Psyche dazu neigt, ein traumatisches Gesehen immer wieder aktiv in die Gegenwart zu holen. Das passiert zum Beispiel in Form von Flashbacks oder Wiederholungszwängen:

Diese Flashbacks sind etwas, was die Menschen außerordentlich quält. So kann man sich vorstellen, warum solche einzelnen Fragmente plötzlich auftauchen. Das können ganz ganz kleine Dinge sein, die die Umwelt gar nicht wahrnimmt. Ein Geruch, der an das miserable Essen erinnert. Ein Gegenstand, den man sieht, der irgendwie assoziiert ist mit einem Gegenstand in diesem Schlafsaal, ist dann der Auslöser.
0:00/0:00



Was können Betroffene selbst tun?

Auf die Frage, was der Kinder- und Jugendpsychotherapeut Betroffenen heute für die Aufarbeitung ihrer traumatischen Erlebnisse raten würde, nennt er drei Punkten. Vor allem hilft es, mit vertrauten Personen zu sprechen, sich in Selbsthilfegruppen mit Menschen, die Ähnliches erlebt haben, zusammenzutun und bei Bedarf eine passende Psychotherapie anzugehen.



  • Bild: Ulrich Privatbesitz



Ulrich erzählt uns, welche weitreichenden Folgen die Kinderverschickung für sein Leben hatte. Er selbst versucht auch positive Aspekte herauszuziehen.



0:00/0:00
0:00/0:00



  • Bild: Sophie Rücker und Gina Feis



Archivarbeit: Verschickungskinderakten



Ein Interview mit Prof. Dr. Christian Keitel vom Landesarchiv Baden-Württemberg

  • Bild: Landesarchiv Baden-Württemberg

Christian Keitel ist Leiter des Projektes zur Aufklärung von Kinderverschickung vom Landesarchiv Baden-Württemberg. Er ist für das Zustandekommen des Anbietungsmoratoriums zu den Verschickungskinderakten verantwortlich.

Im Interview gibt er Antworten auf die wichtigsten Fragen zum Anbietungsmoratorium und erklärt, warum es wichtig ist, besser heute als morgen mit der Aufarbeitung der Kinderverschickung zu beginnen.



Was ist das Anbietungsmoratorium der Verschickungskinderakten und welches Ziel wird dadurch verfolgt? 

In dem Moratorium empfehlen das Landesarchiv Baden-Württemberg und die beiden Arbeitskreise der Kreis- und Stadtarchive den Heimen und Behörden, Unterlagen zur Kinderverschickung erst nach 2025 den zuständigen Archiven anzubieten. Dadurch sollen Betroffene und recherchierende Archive länger Zeit haben, relevante Akten zu finden. 

Warum braucht es ein Anbietungsmoratorium für Verschickungskinderakten?

Bei den meisten Akten zur Kinderverschickung ist die Aufbewahrungsfrist (die Zeit, in der die Akten in den Heimen bzw. Behörden noch aufbewahrt werden müssen) abgelaufen. Sie müssen daher dem zuständigen Archiv angeboten werden. Archive können aber nur kleine Teile der Akten übernehmen und archivieren, der Rest wird vernichtet und kann dann nicht mehr recherchiert werden. Der Anbietungsprozess soll daher aufgeschoben werden, um den Betroffenen mehr Zeit zu geben. 

Warum können die Verschickungskinderakten nicht zum großen Teil ins Landesarchiv bzw. in andere zuständige Archive übernommen werden?  

Das Landesarchiv archiviert derzeit auf etwa 170 Regalkilometern Archivalien aus der Zeit zwischen 780 bis heute. Gegenwärtig liegen in der Landesverwaltung noch weitere 2000 Kilometer Akten, die vor allem in den letzten dreißig Jahren entstanden sind. Diese Dokumente können aus finanziellen und logistischen Gründen nur in kleiner Auswahl erhalten und somit für immer aufbewahrt werden. Das sind etwa 5 Prozent der 2000 Kilometer Akten. Künftige Historikerinnen und Historiker benötigen für ihre Arbeit lediglich einen Bruchteil aller entstandenen Dokumente.

Und könnte man die Verschickungskinderakten digitalisieren? Dann wären sie zumindest digital gesichert. 

Die Digitalisierung kostet ebenso wie die sich anschließende digitale Archivierung sehr viel Geld und kann nur zu einem kleinen Prozentsatz geleistet werden. Hinzu kommt, dass die Daten für die digitale Archivierung dreifach in drei verschiedenen Systemen abgespeichert werden müssen. Geld wird daher sowohl für den Speicherplatz als auch für Hard- und Software sowie die Arbeitslöhne, derjenigen, die für die digitale Archivierung verantwortlich sind, gebraucht.

Was geschieht mit den Verschickungskinderakten nach 2025?

Die Akten werden den zuständigen Archiven angeboten, archivisch bewertet und in Auswahl archiviert. Bei der Bewertung der Verschickungskinderakten suchen die Archivarinnen und Archivare nach Akten und anderen Unterlagen, die Aufgaben der Behörden und Heime und ihre wesentlichen Entscheidungen möglichst genau dokumentieren. Einen Eindruck können Sie in den Bewertungsmodellen des Landesarchivs gewinnen.

Welche Möglichkeiten gäbe es, um die Akten dennoch zu schützen und länger aufzubewahren? 

Für eine Lösung sollten die Akten von allen Personen, die aus heutiger Sicht von staatlicher Seite Unrecht erfahren haben, für die Dauer ihres Lebens aufbewahrt werden. Danach könnten sie archivisch bewertet und in kleiner Auswahl den Archiven übergeben werden. Heute kann diese Aufgabe weder von den Heimen oder Behörden noch von den Archiven geleistet werden. Notwendig wäre daher die Einrichtung von Zwischenarchiven. Es wäre naheliegend, diese Zwischenarchive bei den öffentlichen Archiven anzusiedeln, da dort die nötigen Archivierungskompetenzen vorhanden sind und die Akten zu einem späteren Zeitpunkt archiviert werden sollen. Die Einrichtung eines Zwischenarchivs müsste von der Gesellschaft gefordert und von den Parlamenten mit ausreichend Geldmitteln ausgestattet werden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind die dafür nötigen Mittel weder bei den Archiven noch in den Heimen und Behörden vorhanden. 

Denkbar wäre auch noch eine umfassende Digitalisierung der Akten. Diese Lösung dürfte aber noch teurer sein als die Einrichtung eines Zwischenarchivs. Zu bedenken ist außerdem, dass dann die originalen Papierakten verloren gehen. In juristischem Sinne wird dadurch auch die Beweiskraft vor Gericht deutlich reduziert. 



  • Bild: Landesarchiv Baden-Württemberg



Aufklärungs- und Vereinsarbeit



Vereine als Anlaufstelle für Betroffene

Wie wichtig die Aufarbeitung von Kinderverschickungen ist, hat sich spätestens seit 2019 gezeigt: Nach der Veröffentlichung einer Doku von Report Mainz, die die Missstände in Kinderkurheimen aufdeckt, melden sich tausende Betroffene an verschiedenen Anlaufstellen mit ihrer ganz persönlichen Verschickungsgeschichte.

Noch im selben Jahr findet der erste Kongress zur Aufarbeitung von Kinderverschickungen statt. In Baden-Württemberg gründet sich der erste Landesverein unter dem Namen AKVBW e.V. (Aufarbeitung Kinderverschickungen Baden-Württemberg). Kurz darauf folgt Nordrhein-Westfalen mit einem eigenen Landesverein.

Ein Interview über Vereinsarbeit mit Andrea Weyrauch, Trudel Haas, Gerhard Stoll und Uwe Rüddenklau

  • Bild: k.A.
  • Bild: Sophie Rücker und Gina Feis
  • Bild: Sophie Rücker und Gina Feis



Andrea Weyrauch, Trudel Haas und Gerhard Stoll sind von Anfang an dabei. Sie sind Gründungsmitglieder des AKVBW e.V. und selbst von Kinderverschickung betroffen. Im Video erzählen sie von den Anfängen der Vereinsarbeit, ihren Aufgaben und den aktuellen Herausforderungen und Zielen des Vereins.

  • Bild: Initiative Verschickungskinder e.V.



Uwe Rüddenklau ist Vorstandsvorsitzender des Bundesvereins Initiative Verschickungskinder e.V. und ebenfalls als Kind in Kinderkur verschickt worden. Er erzählt im Video vom aktuellen Stand der Politik und Forderungen seitens des Vereins gegenüber Bund und Ländern.

0:00/0:00



Aktualisierung vom 27. Juni 2024: Der AKVBW e.V. befindet sich gegenwärtig in Liquidation, da es (noch) nicht gelungen ist, einen neuen Vorstand zu finden.

  • Bild: Katrin Raabe



Danksagung



Die Autorinnen



"Kinderverschickung - von Erholung keine Spur" ist ein Masterabschlussprojekt von Gina Feis und Sophie Rücker. Es entstand am Institut für Medienwissenschaft und dem Zentrum für Medienkompetenz an der Eberhard Karls Universität Tübingen, betreut von Prof. Dr. Susanne Marschall.

In gemeinsamen Gesprächen haben Verschickungskinder ihre persönlichen Verschickungsgeschichten und die oft schmerzhaften Erinnerungen an ihre Erlebnisse mit uns geteilt. Für ihren Mut und ihre Offenheit, über das Erlebte zu sprechen, sind wir - Gina und Sophie - zutiefst dankbar. Ein ganz besonderer Dank gilt Trudel, Joachim, Ulrich und Gerhard. Sie und alle Betroffenen von Kinderverschickung sind das Herzstück von "Kinderverschickung - von Erholung keine Spur".

Wir bedanken uns ganz herzlich bei Andrea Weyrauch, Trudel Haas und Gerhard Stoll vom AKVBW e.V. und Anja Röhl, Uwe Rüddenklau und Birgit Lübben von der Initiative Verschickungskinder e.V., die uns tatkräftig bei der Umsetzung dieses Projektes unterstützt haben.

Für die Bereitstellung historischer Materialien möchten wir uns beim Landesarchiv Baden-Württemberg und allen anderen Archiven sowie den Vereinen AKVBW e.V. und AEKV e.V. und allen Betroffenen bedanken.

Wir möchten außerdem allen Expertinnen und Experten danken, die ihr wertvolles Wissen in dieses Projekt eingebracht haben und sich in ihrer Forschung täglich für die Aufarbeitung von Kinderverschickung einsetzen. Ein großes Dankeschön geht an Thomas Beddies, Sylvia Wagner, Hilke Lorenz, Ilona Yim, Arne Burchartz und Christian Keitel.

Ein herzliches Dankeschön gilt auch Prof. Dr. Susanne Marschall von der Eberhard Karls Universität Tübingen, die uns in unserem Vorhaben stets bestärkt und unterstützt hat.

  • Bild: Katrin Raabe