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Kultur - Identitätsstiftung - Erinnerung

Ukraine im Fokus

Facetten einer europäischen Nation

Das Team - Wer sind wir?

Wir sind fünf Geschichtsstudierende mit Schwerpunkt Osteuropa der Universität Tübingen - Katharina Eisenbarth, Richard Kneer, Sophia Kieß, Carolin Mai und Magnus Pötschke.

Das Projekt - Was machen wir?

Im Rahmen eines Lehrforschungprojektes setzen wir uns über den Zeitraum von einem Jahr intensiv mit der Ukraine auseinander. Teil des Projektes war unter anderem eine Exkursion nach Berlin und ein Gespräch mit dem ukrainischen Botschafter Oleksij Makejev. Dieses Gespräch intensivierte unseren Wunsch danach, mit unserem Projekt einen Beitrag zum Beistand der Ukraine zu leisten. Dabei möchten wir unsere Fähigkeiten als angehende Historiker:innen nutzen und nicht nur etwas zur gegenwärtigen Lage der Ukraine schaffen, sondern auch zu ihrer Geschichte, da Russland eben jene gezielt angreift. Nach einigen intensiven Brainstorming-Sitzungen fassten wir den Entschluss, Projekte zur ukrainischen Kultur, Identitätsstiftung und Erinnerung zu erarbeiten. Da das Lehrforschungsprojekt über mehrere Semester verläuft, handelt es sich hier um ein "work-in-progress". Pageflow ermöglicht es uns, schrittweise das Projekt auszubauen und zu ergänzen. Bisher sind Projekte zur ukrainischen Musik und Film, sowie zu Kunstwerken, Denkmälern und zur Esskultur geplant und in Arbeit.

Über Anregungen, Austausch und Kritik freuen wir uns unter: lfp.ukraine-im-fokus@ifog.uni-tuebingen.de

Buchrezensionen

Als Einstieg in das Thema des Lehrforschungsprojektes haben wir fünf besonders aktuelle oder relevante Bücher gelesen und rezensiert. Sie beschäftigen sich sowohl mit der ukrainischen Kultur und Lebenswelt und zeigen auch ihre Sichtbarkeit sowie die Repräsentation des russischen Angriffskrieges in der Öffentlichkeit. Von wortgewaltiger Belletristik über bewegende Biografien und fesselnde Analysen ist für jede:n etwas dabei.





Sasha Vasilyuk

Der gute Name unseres Vaters

Eine Rezension von Katharina Eisenbarth

Sie (Nina) fühlte sich wie ein Gefäß für das zwanzigste Jahrhundert.

Vom eignen Vater, Gesicht gegen Gesicht, wissen wir, alles wissend, nichts.

Für Jefims Tochter Vita ist diese Zeile aus Evgenij Evtušenkos Gedicht Uninteressante Menschen gibt es nicht mehr als Poesie – sie erweist sich als erschütternde Wahrheit. Schon als Jugendliche fühlt sie sich von diesen Worten angezogen. Doch erst nach dem Tod ihres Vaters 2007 wird klar, wie sehr sie auf Vitas und Jefims Leben zutreffen. In Der gute Name unseres Vaters erzählt Sasha Vasilyuk eine vielschichtige Geschichte über Geheimnisse und die Last der Vergangenheit – und stellt dabei Fragen, die weit über die Familie hinausreichen. Dass die Erzählung nicht nur auf wahren Begebenheiten, sondern auf der eigenen Familiengeschichte Vasilyuks beruht, lässt den Roman bei der Lektüre noch intensiver wirken.

In ihrem Debütroman schildert die amerikanische Journalistin mit ukrainisch-russischen Wurzeln auf 400 Seiten die Geschichte von Jefim, Nina und ihren Nachkommen. Die Handlung beginnt im Jahr 2007 mit dem Tod des greisen Jefims und einem beunruhigenden Fund: Ehefrau Nina und Tochter Vita entdecken im Nachlass ein Geständnisschreiben an den sowjetischen Geheimdienst aus dem Jahr 1984. War Jefim in Wirklichkeit kein heroischer Kriegsveteran des Zweiten Weltkriegs? Die Erzählung springt nun zurück ins Jahr 1941. Aus Jefims Perspektive erleben die Leser:innen die Kriegsjahre. Im nächsten Kapitel startet eine zweite Zeitebene im Jahr 1950: Aus Ninas Sicht erfahren die Leser:innen, wie sie Jefim nach dem Krieg kennenlernt. Diese beiden Erzählstränge führt Vasilyuk, teils mit wechselnden Perspektiven, parallel bis zum Ende des Buchs weiter.

Anfänglich braucht es etwas Zeit, mit den Protagonist:innen und ihrer Gedankenwelt warm zu werden. Dann bleibt der Roman mit seiner Erzählweise durchgehend spannend. Zwar kennen die Leser:innen den Ausgang – Jefim überlebt den Krieg, gründet mit Nina eine Familie, beide werden glücklich zusammen alt. Dennoch sind viele Fragen offen: Wie überlebt Jefim als jüdischer Kriegsgefangener in Deutschland? Wie erhält er nach dem Krieg Veteranenstatus, statt nach Sibirien ins Straflager deportiert zu werden? Hat Jefims Familie die ganze Zeit keinen blassen Schimmer von seinem Geheimnis? Erst nach und nach werden diese Fragen beantwortet: Die Geschichte setzt sich so wie ein Mosaik zusammen. Der Spannungsbogen hält dabei bis zu den letzten Seiten. Intensive Einblicke in Gedanken und Gefühle der Protagonist:innen machen ihre Handlungen und persönliche Veränderungen über die Jahrzehnte hinweg nachvollziehbar. Jefim wird vom überzeugten Kommunisten und Sowjetpatrioten zum Skeptiker, Nina entdeckt schließlich ihre ukrainische Identität.

Zwischen den Zeilen dieses Romans liegt die komplexe Geschichte einer Nation, gespiegelt im Schicksal einer Familie. Vasilyuk wirft einzelne Schlaglichter auf die Jahrzehnte und lenkt dabei das Augenmerk auf wichtige Themen. Der sowjetische Umgang mit Kriegsgefangenen aus der Roten Armee, sogenannten „Ostarbeitern“ und Sowjetbürger:innen, die im Zweiten Weltkrieg unter deutscher Besatzung leben mussten, erfährt eine kritische Aufarbeitung. Anhand von Jefim und Nina, die während der 1940er im besetzten Kyjiv wohnte, lernen die Leser:innen in Deutschland immer noch wenig bekannte ukrainische Schicksale kennen. Jefim ist Opfer mehrfacher Marginalisierung: als Jude, Ukrainer und Kriegsgefangener, der jahrzehntelang darauf bedacht war, seine wahre Vergangenheit geheim zu halten. Die Papiere in seiner Ledermappe verbleiben als

die einzigen Beweise, dass er das Leben gelebt hatte, das er gelebt hatte. […] Die Zeit löschte Dinge aus, machte sie unwiederbringlich, doch hier war es schwarz auf weiß, Tinte auf Papier: das Zeugnis dessen, was er getan hatte.

Bis ins hohe Alter will er das vor seiner Familie verbergen.

Jefims Kriegserlebnisse helfen, die strenge Dichotomie zwischen Gut und Böse aufzubrechen, die im Gedenken an den sogenannten „Großen Vaterländischen Krieg“ in der Sowjetunion und im heutigen Russland inhärent ist. Vasilyuk schreibt in ihrem Nachwort selbst:

Das Schreiben meines Großvaters bot mir den allerersten Einblick in das Schicksal von Millionen Überlebenden, die zwischen zwei totalitären Regimen in der Falle gesessen hatten.

Als einer der Schauplätze des Romans hat Donezk eine aktuelle Bedeutung: Nach dem Euromaidan und der Krim-Annexion im Frühjahr 2014 riefen von Moskau unterstützte, russlandaffine, separatistische Kräfte im Donbas die „Unabhängigkeit“ der sogenannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk aus. Im Zuge der Vollinvasion in die Ukraine 2022 gliederte Russland die sogenannte „Donezker Volksrepublik“ völkerrechtswidrig in die Russische Föderation ein. Wie schon im Zweiten Weltkrieg machen Menschen in den von Russland annektierten ukrainischen Gebieten Kriegs- und Besatzungserfahrungen. Während damals Menschen zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt wurden, werden heute ukrainische Kinder nach Russland entführt. Vasilyuk spannt den Bogen bis in das Jahr 2015 und gibt Ninas Reflexionen zum Krieg im Donbas Raum. Mit der Thematisierung paralleler Erfahrungen sensibilisiert sie für den gegenwärtigen Krieg sowie die Fehler ukrainisch-russischer Familien im Umgang mit ihrer Vergangenheit und Identität:

Nina sah ein, dass ihr Sohn, auch wenn er beteuerte, nie Russe geworden zu sein, obwohl er seit den Siebzigern in Moskau wohnte, auch kein Ukrainer war. Obwohl der Krieg seine Heimat, den Donbas, zeriss, lebte er immer noch unter dem Geist der Sowjetunion, wo Russland und die Ukraine untrennbar waren. Anders als er fühlte Nina die eigene sowjetische Identität kippen.

Am Ende ihres Lebens erkennt Nina, dass das Schweigen ihrer Generation falsch war. Dieses Schweigen bricht Sasha Vasilyuk mit ihrem Roman: Historisch fundiert und mithilfe der Memoiren ihrer Großmutter, der realen Vorlage Ninas, spinnt sie eine Geschichte, die wirklich die ihres Großvaters sein könnte.

Sasha Vasilyuks "Der gute Name unseres Vaters" umfasst 400 Seiten und ist 2024 im Droemer Verlag erschienen.



Oleksandr Mykhed

The Language of War

Eine Rezension von Richard Kneer

The Language of War is the words of goodbye.

„The Language of War“ erzählt eine Geschichte über die Entwicklung der ukrainischen Sprache, die sich Stück für Stück der Kriegsrealität annähert. Der Krieg zwingt die Bevölkerung eines Landes dazu, sich sprachlich der neuen Situation anzupassen. So berichtet der ukrainische Schriftsteller Oleksandr Mykhed nicht nur über die Veränderung und Bedeutung der Sprache, sondern er greift auch zwei weitere Themen auf: der Kampf um die ukrainische Kultur und die wachsende Distanzierung der ukrainischen Nation gegenüber Russland, sowie die an dieser Stelle oft verdrängte Tatsache, dass die russische Vollinvasion nicht den Beginn des Krieges gegen die Ukraine darstellt. Diese drei ineinandergreifenden Themen bilden eine kapitelübergreifende Struktur im Buch und prägen die Leseerfahrung von „The Language of War“.

Die language of war, die Sprache des Krieges symbolisiert die kriegsbedingte Veränderung der Sprache im Alltag der Ukrainer:innen und markiert den Wechsel in der Bedeutung und der Relevanz des Gesagten. Das, was vorher wichtig war, ist es nun nicht mehr; das Leben teilt sich jetzt in die Zeit vor der Vollinvasion und in die Zeit danach. Diese weitreichenden Änderungen werden im Buch zum einen durch ein Kriegstagebuch und autobiografische Segmente Mykheds, zum anderen durch die Eindrücke von vier Gesprächspartner:innen beschrieben, die ihre Erfahrungen des Krieges mitteilen. In regelmäßigen Abständen durchbrechen gesonderte Kapitel über die russischen „War Crimes“ die Lektüre. Sie illustrieren durch die nüchterne Beschreibung der Gräueltaten, die Brutalität der russischen Invasionsarmee. Der erste Eintrag in Mykheds Kriegstagebuch entstand am 24. Februar 2022, dem Tag des russischen Einmarschs, der letzte stammte aus dem März des Jahres 2023.

Als Autor und Kulturschaffender ist es Mykhed in der Zeit des Kriegs wichtig, vor allem die Resilienz der ukrainischen Kultur und Sprache zu thematisieren, um die russische Vollinvasion überleben zu können. Denn es sind Sprache und Kultur, die einen großen Beitrag zur ukrainischen Identität leisten und deshalb besonderen Schutz vor dem russischen Angriffskrieg bedürfen.

Die language of war durchläuft eine vielseitige Entwicklung. Es geht sowohl um sprachliche Veränderungen als auch um eine neue Wahrnehmung der Realität, an die sich die Sprache anpasst. Die symbolic language of war beschreibt zerstörte Straßen und ausgebrannte Autos, die zum neuen Alltag in der Ukraine gehören. In eingehender Weise schildert Mykhed zudem seine eigene essenzielle Erkenntnis, wie der Krieg dazu führt, immer häufiger über Kollegen, Nachbarn, Freunde und Familie in der Vergangenheit zu reden. Diese beschreibt die Tragik, wie der Krieg mit aller Gewalt in das Leben der Menschen einbricht, ihnen Leid und Verlust zufügt.

The language of war is when, working on the book, you change the present tense into the past tense. Because those you are talking about are perishing.

Die Sprache des Krieges spiegelt den ukrainischen Patriotismus wider. Soldat:innen werden als „heroes“ bezeichnet. Das patriotische Bild der ukrainischen Armee dient dazu, den unermüdlichen Verteidigungswillen der Ukraine darzustellen. Teil der patriotischen Sprache ist die wachsende Abneigung gegenüber Russland, die mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 an Dynamik gewinnt. Seither liegt wegen der Furcht vor einem militärischen Einmarsch Russlands ein stetig wachsender Schatten über dem Leben in der Ukraine. Mit der russischen Vollinvasion hat die Verachtung gegenüber der russischen Führung und vor allem gegenüber der russischen Gesellschaft mehr um sich gegriffen. Zwar ist es das Regime, das die Anweisungen gibt, jedoch werden diese vom russischen Volk getragen. Auch sind es die russischen Soldaten und Offiziere, die Häuser der ukrainischen Familien plündern und ukrainische Frauen vergewaltigen.

Der russische Angriffskrieg zielt auf die Auslöschung ukrainischer Kunst und Literatur als wichtige Identitätsanker. Diese offensichtliche Zerstörungsabsicht beförderte jedoch in Form der Gegenwehr die ukrainische Identitätsbildung, um die eigene Kultur zu bewahren. Dieser Selbstbehauptungswille wirkt als mächtige Kraftquelle der bewundernswerten ukrainischen Wehrhaftigkeit und Resilienz. Als Schriftsteller liegt Mykhed viel daran, die tragende Rolle der ukrainischen Kultur herauszustellen.

„The Language of War“ gibt auf 280 Seiten einen aufklärenden und immersiven Einblick in den ukrainischen Kriegsalltag. Deutlich wird, wie Sprache, Kultur und Identität ineinandergreifen und sich wechselseitig in ihrer Entwicklung bestärken. An der ein oder anderen Stelle könnte das Buch dem:der Leser:in repetitiv erscheinen; tatsächlich spiegelt dieser Eindruck jedoch die tragischen Umstände in der Ukraine und die anhaltende Grausamkeit der russischen Kriegsführung wider. Die Lektüre hinterlässt bei den Lesenden vor allem eines: den Eindruck einer starken, resilienten und zusammenstehenden ukrainischen Nation, die ihre Freiheit, ihre Identität und ihre Kultur trotz aller Leid- und Verlusterfahrungen mit aller Kraft zu verteidigen weiß.

Oleksandr Mykheds "The Language of War" umfasst 280 Seiten und ist 2024 bei Penguin Books erschien.

Hryhir Tjutjunnyk

Drei Kuckucke und eine Verbeugung

Eine Rezension von Carolin Mai

Wo man Kummer hat, Sohn, da ist kein Platz für Wut. Da ist nur Kummer.

Mit "Drei Kuckucke und eine Verbeugung" wurde 2024 erstmals ein Werk des ukrainischen Schriftstellers Hryhir Tjutjunnyk in die deutsche Sprache übersetzt, das als Kurzgeschichtensammlung posthum schon 1981 erschienen war. Heute gilt Tjutjunnyk als einer der wichtigsten Autor:innen in der Ukraine; Sein Schreibstil und seine Ausdrucksweise haben eine ganze Generation geprägt. Bis heute erfreuen sich seine Werke großer Beliebtheit, da er mit seinen Werken für die Wiederentdeckung einer nationalen, ukrainischen Identität steht. Tjutjunnyks Geschichten zeichnen sich durch ihren zeitlosen Charakter aus – sie behandeln universelle menschliche Themen wie Liebe, Familie, Verlust und Identität.

Geboren 1931 in dem Gebiet Poltava erlebt Tjutjunnyk als Zweijähriger den Holodomor, den in der Stalinzeit herbeigeführten Hungergenozid. Bei dieser menschengemachten Tragödie starben fast vier Millionen Ukrainer:innen den Hungertod, so auch sein Großvater. Er selbst verliert die Fähigkeit zu laufen, zu sprechen und zu lachen. Vier Jahre später wird die Familie Opfer von Stalins Großen Terror. Sein Vater wird als „Volksfeind“ zur mehrjährigen Haft in einem Straflager verurteilt, Tjutjunnyk sieht ihn nie wieder. Als seine Mutter einen neuen Mann findet, bringt sie ihren Sohn bei Onkel und Tante unter. Der Onkel kämpft im Zweiten Weltkrieg an der Front, auch ihn sieht Tjutjunnyk nie wieder. Nach dessen Tod kann seine Tante Tjutjunnyk nicht weiter ernähren und schickt ihn zurück zur Mutter. Zwei Wochen lang durchquert er als kleiner Junge die von Krieg, Kälte und Hunger gezeichnete Ukraine. Früh muss er lernen, sich um sich selbst zu kümmern. Tjutjunnyk leistet Wehrdienst bei der Marine, arbeitet in einem Eisenbahndepot und holt dann auf der Abendschule den höheren Schulabschluss nach. Anschließend studiert er in Charkiv russische Literatur und Sprache. Zu Beginn verfasste er seine Geschichten noch auf Russisch; Durch seinen älteren Halbbruder, ebenfalls ein Schriftsteller, findet er zur ukrainischen Sprache.

Wisse einfach, Bruder, dass die Seele eines Volks die Sprache ist. Wie willst du über die Ukrainer schreiben, wenn du es nicht in ihrer Sprache tust, wie ihrer Seele Ausdruck verleihen, wenn nicht mittels ihrer Seele, ihrer Sprache?

Vom Ruhm um seine Person und der Anerkennung seines Schreibstils erfährt Tjutjunnyk zu seinen Lebzeiten nicht mehr. Zwar nicht offen systemkritisch, aber mit subtilem Unterton und nicht ganz in den Stil der Zeit passend, wird Tjutjunnyk von den Kulturkreisen ausgeschlossen. Es hagelt schlechte Rezensionen, er wird schikaniert, seine Literatur nicht anerkannt. Immer mehr versucht er seinen Kummer im Alkohol zu ertränken. Am 6. März 1980 beendet er sein Leben. Neun Jahre später erhält er post mortem den Taras-Ševčenko-Preis, die höchste Auszeichnung für Kunst- und Kulturschaffende in der Ukraine.

Die von Beatrix Kersten übersetzte Kurzgeschichtensammlung ermöglicht einem deutschsprachigen Publikum erstmalig einen Zugang zu Tjutjunnyks Werk. 13 Kurzgeschichten umfasst die Sammlung, ein Nachwort und ein Glossar ergänzen das Buch. Der Titel "Drei Kuckucke und eine Verbeugung" ist Kurzgeschichte und ukrainische Redewendung zugleich. In dieser Erzählung schickt der Vater des Protagonisten seiner Verflossenen Marfa aus dem sibirischen Lager drei Kuckucke und eine Verbeugung. Damit signalisiert er Marfa, sie solle ihn endlich vergessen, da er ihre Liebe nicht erwidere. Gleichzeitig bittet er sie damit um Vergebung.

Gerade die kürzeren Geschichten stechen heraus. Während längere Erzählungen sich stellenweise ziehen und sich Charaktere flach anfühlen, erweckt Tjutjunnyk in den kurzen Erzählungen so vielschichtige Protagonist:innen zum Leben, wie es manch einer nur in dicken Schmökern zu schaffen mag. Zwar sind die Kurzgeschichten voneinander losgelöst und stehen für sich, dennoch treten immer wieder verwandte Themen und Motive auf. In großen Teilen spielen sie im Mikrokosmos des ukrainischen Dorfes. In der ländlichen Gemeinschaft konnte die ukrainische Identität überdauern und ihre Traditionen, Kultur und Sprache bewahren. Immer wieder schreibt der Autor über die „Heimkehrenden“, die nach kurzer oder längerer Abwesenheit zurück in die vertraute Heimat kehren. Oftmals blicken sie von oben auf die Dorfbewohner:innen herab. Sie grenzen sich durch ihre Lebensart und die von ihnen gesprochene russische Sprache ab. Nach kurzer Zeit wird den Lesenden bewusst, dass das Leben in der Stadt zwischen Fabriken, Qualm und Motorenlärm wohl doch nicht so glamourös ist, wie von den Heimkehrenden behauptet wird. Ohne dabei das Dorfleben zu romantisieren, erweckt Tjutjunnyk verschiedene Dörfer und ihre Bewohner:innen zum Leben. Er schneidet Themen wie die Zwangskollektivierung, die sowjetischen landwirtschaftlichen Großbetriebe, die Kolchosen und das Zaristische System an. Der Handlungsort erlaubt es ihm auch, ukrainische Hochzeitsbräuche, Traditionen und das dörfliche, familiäre Zusammenleben zu thematisieren.

Weitere Motive in Tjutjunnyks Werken sind der Krieg mit dem Fokus auf die Hinterbliebenen, auf die Hungersnöte und das Leben im sowjetischen Regime. Die Erzählungen sind ineinander verflochten. In „die Medaille“ etwa begleiten die Lesenden den gebrechlichen Danko, der als Kriegsveteran für seine Dienste im Zweiten Weltkrieg ausgezeichnet und geehrt wird. Mühsam schleppt sich der vom Alter gezeichnete Mann aus seinem kleinen zugigen und von Kälte durchzogenen Haus in das Gemeindezentrum. Dort wird er mit großem Tamtam und in allen Ehren empfangen. Nach der feierlichen Auszeichnung kehrt er in sein heruntergekommenes Haus zurück, legt die Medaille achtlos zu den zahlreichen anderen Abzeichen hinzu und entdeckt voller Freude einen Sonnenblumenkern in einer Dielenspalte. Der vom Regime anerkannte Kriegsheld ist ein Posterideal und leidet an Armut, Kälte und Hunger. Geschichten wie diese verdeutlichen Tjutjunnyks Schreibkunst: Offent kritisiert er das Sowjetregime nicht; Mit Metaphern umgeht er die sowjetische Zensur. Subtil deutet er Armut und Hunger, die Unterdrückung und Verfolgung an, die in der Sowjetuniondas Leben prägen.

Tjutjunnyks große Stärke ist es, mit seinen Worten Bilder zu weben. Lebhaft und eindrücklich flicht er visuelle Spaziergänge durch seine Werke. Darin begleiten die Lesenden den Ich-Erzähler beispielsweise bei einem abendlichen Spaziergang durch das ländliche Idyll der Ukraine:

Nachts ging der alte Tereschko aufs Steilufer hinauf, um überm Wasser des Dnipro aus nächster Nähe dem Mond zuzusehen, wie der eine lange, rote Brücke über den Fluss ausspannte, so tiefrot und in einer ruhigen Nacht ohne Wellen so solide, dass man sie hätte betreten mögen und gehen, gehen bis zum Rand, bis zum Rand des Lebens… Tereschko ist lange her schon über diese Brücke gegangen.

Mit wenigen Worten gelingt es dem Autor, malerische Impressionen und kleine Welten zu kreieren. So macht er alltägliche Momentaufnahmen zu etwas Einzigartigem. Insbesondere die kurzen Erzählungen stechen hervor, die einen mit ihren mitfühlenden Einzelkämpfern und „Wunderlingen“ in ihren Bann ziehen und mitfühlen lassen Drei Kuckucke und eine Verbeugung ist allen zu empfehlen, denen solch prosaische Literatur gefällt:

Ein Spinnennetz glitzert, alt, verfilzt, von der Sorte, wie es nicht einmal der Wind mehr zerreißen kann, höchstens ein Spatz, sollte er es mit dem Flügel streifen. Dann raschelt das Spinnennetz und entlässt zwei funkelnde Rinnsale auf den Boden.



Hryhir Tjutjunnyks "Drei Kuckucke und eine Verbeugung“ umfasst 13 Erzählungen, auf 220 Seiten und ist 2024 im Weissbooks-Verlag erschienen.





Julian Hans

Kinder der Gewalt - Ein Portrait Russlands in fünf Verbrechen

Eine Rezension von Sophia Kieß

In Russland aber gehört die Verehrung der Gewalt seit den 1990er Jahren zur Leitkultur.

Der Massenmord auf der Familienfeier des Agrarunternehmers Serwer Ametow erschüttert eine Kleinstadt in der südrussischen Provinz. Ametow muss zusehen, wie seine Gäste erstochen und die Kinder erwürgt werden, bevor die Mörder auch ihn töten. Die Täter: ein krimineller Clan um die Familie Zapok. In den 90ern erledigte die Kampfsporttruppe die Drecksarbeit für korrupte Geschäftsopportunisten und riss in den folgenden Jahrzehnten die Kontrolle über fast den gesamten Ort an sich. Sie terrorisieren und demütigen die Bevölkerung und vergewaltigen die Frauen. Kommen sie dennoch in Konflikt mit dem Gesetz, attestiert ihnen die psychiatrische Spezialklinik Unzurechnungsfähigkeit. Als der Anführer der Bande ermordet wird, führt die oberste Richterin des Gebiets den Trauerzug an.

Während Nikolaj Zapok als „Kolja der Wahnsinnige“ die Herrschaft mit Brutalität durchsetzt, bekommt sein Bruder Sergej einen Doktortitel in Soziologie verliehen und steht bei Dmitrij Medvedevs Amtsantritt im Kreml Spalier. Nehmen junge Frauen den Mut zusammen, über die Vergewaltigungen zu sprechen, so empören sich die Menschen vor Ort nicht etwa über die Täter oder den fehlenden Strafvollzug. Stattdessen werden die Opfer beschuldigt, durch ihre öffentliche Aussagen Schande über ihre Familien zu bringen. 

Ähnlich ergeht es Krestina, Angelina und Maria Chatschaturjan, drei Schwestern aus Moskau, die 2018 ihren Vater im Schlaf ermorden. Er hatte sie jahrelang als Haussklavinnen tyrannisiert und sexuell missbraucht. Der sadistische Vater hält sich für einen gottesfürchtigen Mann, seine Arbeit beim FSB schützt ihn vor dem Jugendamt und der Verkehrskontrolle. Der Fall, in dem die jungen Frauen in ihrer verzweifelten Notwehr das Muster der Gewalt umdrehen, erschüttert das Land – und macht sie zur Zielscheibe einer medialen Schlammschlacht, in der sie perfiden Beleidigungen ausgesetzt und für den Tabubruch des Vatermords diffamiert werden.

Mit diesen sowie drei weiteren Fällen, die das gesamte Land bewegten, bietet Julian Hans in seinem "Kinder der Gewalt – Ein Porträt Russlands in fünf Verbrechen", das 2024 bei C.H. Beck erschien, ein erschreckendes Panorama der alltäglichen Gewalt in Russland. Auf knapp 250 Seiten wirft der langjährige Moskaukorrespondent der Süddeutschen Zeitung Schlaglichter auf zentrale Themen der russischen Gegenwart wie häusliche Gewalt oder Machtmissbrauch. So zeichnet er das Ausmaß der Gewalt und die Reaktionen einer traumatisierten Gesellschaft nach. Da der Staat selbst zu einer kriminellen Struktur geworden sei, könne seine Analyse Antworten auf einige Fragen geben, über die sich die politische Öffentlichkeit seit geraumer Zeit den Kopf zerbricht: Woher kommt die Gewalt in der russischen Gesellschaft und den Streitkräften? Wie konnte es dazu kommen, dass die Zivilgesellschaft dieses Regime nicht nur erduldet, sondern auch mitträgt und bereitwillig in den Krieg zieht? Und wie ist es möglich, dass die russische Bevölkerung trotz jahrzehntelanger Gewalterfahrung am eigenen Leibe kaum Empathie für die Opfer in der Ukraine aufbringt?

Die Frage nach einer Gewaltkultur Russlands ist bei Weitem nicht neu. Mit seinem zugänglichen Schreibstil und seiner langjährigen Expertise gelingt es Hans jedoch, ohne voyeuristische Faszination für „das böse Russland“ die wichtigen Entwicklungslinien der Gesellschaft seit den 90er Jahren sowie die Parallelen zwischen privater und außenpolitischer Gewalt greifbar zu machen. Der rote Faden der jüngsten Geschichte Russlands ist dabei eine Blutspur von Grozny über Aleppo bis Mariupol und Buča. 2017 wurde häusliche Gewalt in Russland entkriminalisiert, unter einem Präsidenten, der am Vorabend der Vollinvasion 2022 in einem Gespräch mit Macron eine Vergewaltigungsmetapher für die Ukraine gebrauchte.

Ob du es willst oder nicht, du wirst es hinnehmen müssen, meine Schöne.

Putin

Das System Putin erhob den brutalen Gopnik – ein stereotypisierter Jugendlicher, der sich durch Gossensprache, Kleinkriminalität und Homophobie auszeichnet – zum Männlichkeitsideal und etablierte Gewalt als „sozial anerkannte Norm“ sowie als „Mittel der Interaktion zwischen Regime und Bevölkerung.“ Die Bürger:innen hätten in den letzten drei Jahrzehnten nie erfahren, dass jemand für ihre Rechte einsteht und sie verteidigt, so Hans. Stattdessen herrsche systematische Straffreiheit unter den Tätern, während den Opfern Gerechtigkeit versagt wird. Seit dem Krieg gegen die Ukraine ist das Regime auf die zunehmend Straffreiheit angewiesen, da sich verurteilte Gewalttäter durch den Militärdienst von ihrer Strafe befreien können. Daraus resultiere laut dem Autor die weit verbreitete apolitische Haltung und eine Geringschätzung für das eigene Leben und das Anderer. 

Hans sieht aber auch Grund zur Hoffnung. In Gesprächen mit NGO-Vertreter:innen oder mutigen Bürger:innen zeigt er, wie generationelle Gewaltmuster überwunden werden können. So startete Denis Karagodin, dessen Urgroßvater vom sowjetischen Geheimdienst NKWD ermordet worden war, eine öffentlichkeitswirksame Suche nach den Tätern. Und tatsächlich meldete sich bald Julia, die Enkelin eines verantwortlichen Gefängnisdirektors, bei ihm. Als Karagodin mit einem Preis für seine zivilgesellschaftliche Initiative ausgezeichnet wird, widmet er ihn Julia und ihrem Mut, sich ihrer Familiengeschichte zu stellen. Jedoch habe der Krieg die Gesellschaft bei der Aufarbeitung ihrer Geschichte um Generationen zurückgeworfen.

Immer wieder spannt Julian Hans den Bogen von Russlands inneren Verfasstheit, das in allen Bereichen von Gewalt durchdrungen ist, zur außenpolitischen Aggression, durch die sich der Kreislauf der Gewalt fortsetzt. Vor diesem Hintergrund kann das Buch auch als Mahnung gelesen werden: An der ungesühnten russischen Alltagsgewalt sehen wir, was passiert, wenn man das Recht des Stärkeren gewähren lässt. Dieser Prozess der Einschüchterung und des kollektiven Wegschauens darf sich auf der Weltbühne nicht wiederholen. Damit kritisiert Hans auch die in Deutschland verbreitete Ansicht „Der Russe braucht eben eine harte Hand“ als rassistisches Klischee, das es erlaube, die Augen vor den tatsächlichen Entwicklungen der russischen Gesellschaft zu verschließen.

Julian Hans leistet mit seinem Buch einen wichtigen Beitrag dazu, die Erfahrungen und Debatten der russischen Gesellschaft einer breiten Leser:innenschaft zugänglich zu machen und so gleichzeitig die entfesselte Gewalt der russischen Streitkräfte zu kontextualisieren. Er erweitert den Diskurs um „Putins Krieg“ und gibt den Blick frei auf tiefsitzende Probleme, die eine Hypothek für die Zukunft darstellen.  

[Denn a]uch wenn Putin nicht mehr im Kreml sitzt - die Gesellschaft tritt nicht ab.

Julian Hans' "Kinder der Gewalt - Ein Porträt Russlands in fünf Verbrechen" umfasst knapp 250 Seiten und ist 2024 bei C.H.Beck erschienen.



Olena Stjaschkina

Der Tod des Löwen Cecil ergab Sinn

Eine Rezension von Magnus Pötschke

In einer globalisierten Welt, in der die Menschen nicht mehr an einen Ort gebunden sind, bringt der Krieg das Konzept einer Heimat zurück.

Ein Krankenhaus in Donezk, Entbindungsstation, ein Tag im Jahr 1986. Kinder kommen zur Welt, Ärzte eilen auf Korridoren, Eltern verlieren den Kopf. Ernst Fink, Kommunist mit deutschen Wurzeln, ist mit einem Fotografen der Lokalpresse gekommen. Im Gepäck: eine Dreizimmerwohnung, ein Auto, mehrere Teppiche, Küchengeräte. Er will die Eltern von zwei Neugeborenen überzeugen, ihre Kinder zu Ehren des legendären deutschen Kommunistenführers Ernst Thälmanns auf die Namen Ernest und Thelma taufen zu lassen. Doch trotz der überzeugenden materiellen Argumente wird das schwieriger als gedacht.

Olena Stjaschkinas Roman beginnt so abrupt wie unverhofft und schleudert uns mitten hinein in eine absurde Geschichte. Was nämlich, wenn die Eltern gar nicht wollen, dass ihr Kind nach einem deutschen Kommunisten benannt wird? Was, wenn sie es lieber in ein Kloster geben würden? Was, wenn der Kommunismus schon wenige Jahre später jeden Glanz verloren hat, an den Ernst bis an sein Lebensende glaubt? Stjaschkina verwebt in ihrem Roman verschiedene Geschichten und knüpft aus den unterschiedlichen Personen einen Handlungsteppich von den 1980er Jahren bis heute. Dabei verwischen die Zeiten und die Orte. Einerseits ist man unterwegs mit dem mittellosen Studenten, andererseits mit der reichen Zahnarztgattin. Genau weiß man nie, wer voneinander weiß. Wie Schlaglichter in einem Wimmelbild setzt das Buch die Akzente auf seine Figuren. Was sie alle verbindet, ist ihre Heimatstadt. Donezk scheint durch alle Handlungsstränge, sei es im Trolleybus, im Mercedes, zu Fuß, sei es in der Uni, im Park, in der Villa, im Bergwerkschacht. Und: Donezk ist keine Schönheit, Donezk ist das stählerne Herz des industriegeprägten Donbass.

Nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Region seit April 2014 wird Donezk zur Frontstadt und der Krieg allgegenwärtig. Jungen werden zu Soldaten, Ärzte behandeln plötzlich Schussverletzungen. Aber nicht nur das Leben der Personen in Stjaschkinas Roman verändern sich. Auch die Sprache reagiert auf die Aggression. So werden die Kapitel, die nach 2014 spielen, auf Ukrainisch erzählt. Die Dialoge wechseln zwischen den beiden Sprachen hin und her. Die Übersetzung kennzeichnet die verwendete Sprache zu Beginn jedes Absatzes:

[auf Russisch] „Genja, ich habe dir schon hundertmal gesagt, dass mein Stefan keine gelben Chrysanthemen mag.“ [auf Ukrainisch] „Lachst du etwa? Wenn ich mich mit meinem Sohn streite, dann immer nur auf Ukrainisch. Der weiß das schon: Wenn ich die Sprache wechsle, dann steht ihm nichts Gutes bevor. Aber beim Arzt oder beim Friseur, da spreche ich Russisch. Und mit Stefan – mal so mal so.“

Die Sprache wird durch die russische Aggression zum alltäglichen Stolperstein. Sprechen ist angesichts der gelebten Zweisprachigkeit eine Alltagsgewohnheit: Unbewusst spricht der eine Russisch, ein anderer Ukrainisch, manch einer wechselt mit jedem Satz. Jeder Sprecher allerdings legt nach dem Beginn des Krieges seine Worte auf die Goldwaage. Das ist besonders auch eine schwierige Arbeit für einen Übersetzer, weswegen Jakob Wunderwald der deutschen Ausgabe ein ausführliches Glossar der Metaphern hinzugefügt hat. Hilfreich ist das vor allem, wenn man nicht jede russische oder ukrainische Redewendung direkt erkennen kann. Den Spaß beim Lesen nimmt das aber nicht. Schließlich zeigt das Buch dadurch all die Widersprüche, die sich aus der Mehrsprachigkeit der Stadt Donezk ergeben.

Da sind zum Beispiel die ukrainischen Volksmärchen. Denn die Stahlfabriken des Donbass, entstanden unter der sowjetischen Herrschaft, stehen in Stjaschkinas Geschichte den alten ukrainischen Sagen und Fabeln gegenüber. Die Großmutter von Ernest, eigentlich Zugschaffnerin auf der Strecke nach Kiew, erzählt ihrem Enkel von der Baba, dem Geist der Stadt. Die Baba spricht Ukrainisch, sie begleitet Ernest und Thelma fortan durch die Geschichte. Doch die Baba ist launisch und verleiht ihrem Missmut mit aufbrausendem Charakter gerne auch mal Ausdruck:

[auf Ukrainisch] Sie lächelte und fragte: „Warum sehen wir eigentlich die Jungfrau Maria nicht? Wir sehen nur diese Baba mit ihrem Geschimpfe, warum keinen Jesus?“

„Ich zeig euch die Jungfrau Maria!“, keifte die Baba. „Ihr habt ja vollkommen den Verstand verloren mit euren lasterhaften Mäulern. Ist es die Jungfrau Maria, die euch beim Herumhuren fehlt? Wollt ihr die ins Grab bringen? Ihr bösartigen Bettelkinder!“

Der Geist spiegelt die Erzählweise des Buches. Die chaotische und unterhaltsame Tour de Force durch die ukrainische Geschichte ist jedoch weitaus mehr als nur komisch. Ungeschönt und vielseitig bekommen wir alles zu lesen, was ukrainische Erinnerung und Gedächtnis ausmacht, mit all den damit verbundenen Freuden und Schmerzen. Der Titel weist dabei auf die widerrechtliche Tötung des Löwen Cecil in einem Nationalpark in Zimbabwe im Jahr 2015 hin. Diese hatte große internationale Solidarität zur Folge und verdrängte damit die Berichterstattung über den im Vorjahr begonnenen Krieg in der Ukraine. Sinn ergab das für die Ukrainer und Ukrainerinnen nur in der schmerzlichen Erkenntnis, dass man sie ein ums andere Mal vergessen hatte. Sinnbildlich stand der Löwe Cecil für das abnehmende Interesse der Weltöffentlichkeit an der Verletzung der Souveränität der Ukraine, an dem Angriff auf ihre Kultur und Identität. Wie kann man Krieg in Worte fassen, wenn niemand hinhören will? Die Gleichgültigkeit des Westens verletzt die gesamte Ukraine und überlässt das Land seiner Hilflosigkeit – nicht zuletzt das zeigt sich in Stjaschkinas Roman.

Donezk ist die Kulisse eines Stückes, in dem der Leser mit jedem Kapitel ein weiteres Mosaiksteinchen sammelt. Am Ende jedoch bleibt das Bild unvollständig und rasterhaft, wie der Stadtplan einer zerstörten Stadt. Dennoch, „Der Tod des Löwen Cecil ergab Sinn“, ist viel mehr als ein Kriegsroman. Es ist die Geschichte von Menschen zwischen Aufbruch und Reaktion. Sowjetimperium und Ukraine, Armut und Reichtum. Ernest und Thelma, die unterschiedliche Wege einschlagen und doch die gleichen historischen Ereignisse erleben, stehen stellvertretend für die ganze ukrainische Gesellschaft. Beide zieht es in ihrem Leben ins Ausland, den einen nach Osten, die andere nach Westen. Und auch erkennen die beiden erst mit dem Krieg, was Donezk für sie bedeutet. So ist der Roman nicht zuletzt eine Geschichte über Identität in Zeiten des Krieges – in so vielen Facetten wie nur irgend möglich.

Olena Stjaschkinas Roman: „Der Tod des Löwen Cecil ergab Sinn“ hat 270 Seiten und ist im Mauke-Verlag erschienen.